In Bayern um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert treten viele Bürger der Stadt und Bauern der Umgebung vor das Königlich Bayerische Amtsgericht und hoffen, dass sie beim klugen Amtsgerichtsrat ihr gutes Recht bekommen. Nur wenige ziehen enttäuscht ab – die meisten erkennen willig die bayerische Gerechtigkeit an.
Unbestritten gehört Ludwig Thoma (1867 – 1921) zu den „Klassikern“ der bayerischen und deutschen Literatur des auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Selbst Jurist – Thoma war in Dachau und später in München als Rechtsanwalt tätig, bevor er sich ganz der Schriftstellerei widmete – hat er seine Fälle niedergeschrieben und zu Einaktern oder Kurzgeschichten verarbeitet.
Aber auch seine Juristenkollegen lässt Thoma in seinen Werken nicht ungeschoren.
Seine Haltung zu den Richtern und Staatsanwälten seiner Zeit fasst Thoma in dem unübertroffenen Bonmot zusammen: „Er war ein guter Jurist, und auch sonst von mäßigem Verstande.“
DIE SPANISCHE GRÄFIN – oder Lola Montez und Ludwig Thoma vor dem Amtsgericht
Man schreibt das Jahr 1910 – im oberbayerische Kraglfing hat die Zeit allerdings so ihr eigenes Gesicht – ein recht sittenstrenges, sofern es weibliche Züge hat. Die Männer … – nun ja: Man kennt doch die Welt – und das Leben … und die Frauen! Eine junge, schöne – eine Tänzerin aus Spanien, heißt es – bringt seit einigen Tagen mit ihren Darbietungen die Gemüter in Wallungen – wenn auch geschlechtsspezifisch in unterschiedliche. ‚Frau‘ fühlt sich zu höchst offiziellen Unmutsbekundungen nach gerade verpflichtet. ‚Mann‘ entdeckt, dass in ihm schon lange die Liebe zur Kunst schlummerte. Gerichtsrat Zwicknagl muss solch männliche Ambitionen bei Seite legen, als er dieser bunten Tage die Anweisung aus dem Justizministerium erhält, gegen die Künstlerin ein Eilverfahren wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses durchzuführen. Die Regierung in der (zumindest geistig) fernen Hauptstadt München reagiert ungewohnt nervös auf die Vorkommnisse um die „Spanische Gräfin“, die seit kurzem in der kleinen Residenz-stadt für Aufruhr sorgt. Die hiesige noble wie werktätige Gesellschaft teilt sich mittlerweile in zwei streitbare Lager. Die Obrigkeit fürchtet den Aufstand – und der kann, wie man weiß, ansteckend sein: Zu gut ist noch in Erinnerung, wie im Revolutionsjahr 1848 König Ludwig I. wegen seiner Liebe zur irischen Tänzerin Lola Montez letztlich abdanken musste und in Folge das Bayer-ische Königreich eine ernste Existenzkrise durchlitt. Zu allem Überfluss nennt ein Münchner Schmierenjournalist (also ein gern gelesener) namens Kreuzberger in seinen Artikeln die „Gräfin“ auch noch „die neue Lola Montez“. Da bei der „Gräfin“ so einiges spanisch ist, nur nicht ihre Herkunft, hat sie gegen diese Presse keine Einwände. Die Münchner Geheimpolizei sammelt währenddessen Hinweise, dass besagte Dame mit der von Ludwig I. von Bayern gegen alle Staatsraison nicht nur zur ‚maîtresse regnante‘, sondern gar zur Gräfin Marie von Landsfeld erhobenen Lola Montez in Verbindung stehe. Dr. Zwicknagl hält diese Befürchtungen für leicht überzogen. Zu seiner Überraschung taucht aber die Kraglfinger „Gräfin“ während der notgedrungen angesetzten Verhandlung tatsächlich auf. Die Spannung im Saal erstarrt in atemlosem Schweigen. Stille, in die das Bekenntnis der ‚Spanischen‘ wie Kastagnettenschlag fällt: „Ich bin die Halbschwester der Lola Montez …“ Weiter kommt sie nicht. Dr. Zwicknagl ebenfalls nicht: Seine Verwunderung, ob dieser genealogisch doch erstaunlichen Behauptung, geht im Tumult unter. Er hat seine liebe Müh, dass die Verhandlung nicht im skandalösen Chaos versinkt. Möge die Welt und München im Speziellen in diesen Minuten über Kraglfing hinwegsehen … Die Hoffnung stirbt … – diesmal schnell: Ein Mann betritt den Gerichtssaal, der nicht nur dem Amtsrichter wohl bekannt ist: Der allseits geschätzte Schriftsteller Ludwig Thoma gibt sich die Ehre. Und da dieser zugleich studierter Jurist und langjähriger Anwalt vieler bayerischer Prozesse ist, darf diesmal nicht auf seine frei-künstlerische Perspektive vertraut werden. Der Amtsrichter wünscht das Schwert herbei und findet in letzter Minute doch ein fintenreiches Florettspiel, um den Gordischen Knoten dieses heiklen Falls zu zerschlagen …
Auf Ludwig Thomas (selbst)ironischen Spuren wandelnd, das Menschliche und Allzu-Menschliche mit ebensolchen Genuss pointierend, präsentiert sich auch der ‚jüngste‘ Fall vor dem Bayerischen Amtsgericht – die ‚Verhandlung‘ ist für Herbst 2015 angesetzt
Christine Neubauer
Ensemble: Bairische Bühne Wasserburg
Buch / Regie: Jörg Herwegh